Mein Mann war, bevor ich ihn unter meine Fittiche nahm, ein Kulturliebhaber sondergleichen. Klassische Konzerte hier, Opern da, Theateraufführungen dort, Kunstausstellungen. Selbst im Kino schaute er sich nur Filme auf „ARTE-Niveau“ an. Schwierig für mich, ihn davon wegzubekommen. Mittlerweile ist mir das sehr gut gelungen, denn zum einen wohnen wir in der tiefsten Provinz. Zum anderen hat er dafür gar keine Zeit mehr. Wie dem auch sei, hin und wieder findet er auch hier in der Umgebung etwas, was ihn an gute alte Zeiten erinnert. So ist er auf die Villa Musica aufmerksam geworden. Diese bringt interessante Künstler in die Region, verbunden mit Klassikern. So fand der die Violinsonate Nr.9, besser bekannt als Kreutzer-Sonate, und das Klavierquintett a-Moll von Camille Saint-Saëns interessant genug, sich das anzuhören. Also lud er mich auf ein klassisches Konzert mit Nachwuchskünstlern ein.
Dazu muss man wissen, mein Mann macht das regelmäßig. Er entführt mich aus dem Alltag und überrascht mich mit irgendwas. Dieses Mal eben ein klassisches Konzert. Also machten wir uns auf den Weg nach Engers ins Schloß. Der Rahmen passte und der Beginn des Konzertes auch. Die Darbietung der Kreutzer-Sonate gefiel uns und er war mit seiner Auswahl merklich zufrieden. Interessant war dabei, dass in den ruhigeren Passagen des Stückes dem ein oder anderen die Augen zu fielen. Bemerkenswert, denn es war erst später Nachmittag und selbst ich blieb wach.
An dieser Stelle noch einen schönen Gruß an den jungen Herrn (Anfang – Mitte 20) in der zweiten Reihe, der offenbar mit seiner Freundin samt deren Eltern in den Genuss des Konzerts kam. Seine Kleidung (Jeans und T-Shirt) ließen bereits vermuten, dass er klassische Konzerte nicht regelmäßig in seiner Freizeit besucht. Er war einer derjenigen, die das ruhige Stück nicht ohne Schlaf schafften. Aus meiner Sicht nicht tragisch. Blöd war nur, dass der Saal mit diversen großen Spiegeln ausgestattet war. Einer davon hing direkt gegenüber des genannten Herren und seinem Anhang, sodass jeder und zwar wirklich jeder seine wiederholten Nickerchen bestens beobachten konnten. Auch seine potentiellen Schwiegereltern. Ich wage die Prognose, dass die offenbar klassikbegeisterten Eltern anschließend ein Wörtchen mit ihrer Tochter gesprochen haben. Das war es vermutlich mit Papas Segen für ihn.
Als zweites Stück folgte ein Werk von Ulvi Cemal Erkin. Ein Komponist der meinem Mann gänzlich unbekannt war, noch. Dargeboten wurde sein Klavierquintett von 1943. Gleich zu Beginn wurden die ersten Zuhörer aus ihren Träumen gerissen und sehr unsanft geweckt. Die offensichtliche Skeptik meines Mannes verstärkte sich von Minute zu Minute. Erhoffte melodische Passagen – weit gefehlt. Es gab für ihn eher Verstörendes zu hören, ein wildes Durcheinander von Tönen, Klängen und Schlägen auf die Streichinstrumente. Wir kennen uns jetzt lange genug, ich wusste sofort, das geht nicht lange gut. Es gelang mir, ihn über die vier Sätze einigermaßen zu beruhigen. Danach kam die Pause und dann ging es los. Er sprach erst seine Sitznachbarn an und meinte: „Hat ihnen das Stück auch so gut gefallen? – ich fand es großartig.“ Viele Zuschauer waren ähnlich verstört, andere fanden es intellektuell inspirierend. Jedem das seine. Mich erinnerte es in Teilen an Hape Kerkelings berühmten Sketch mit ‚Hurz!‘ Ich bin allerdings nicht gerade für meinen Zugang zu klassischer Musik bekannt.
Mein Mann jedenfalls konnte sich nicht mehr beruhigen. Selbst auf der Toilette schlugen die Emotionen hoch. Wieder bei mir, meinte er:“ Super. Beethoven, Camille Saint-Saëns und als Gegenpol Erkin, fantastische Kombination. Wer denkt sich sowas aus?“. Seine Aggressionen mussten raus und er fragte mich: „Hat dich das Stück auch so bewegt, erstaunlich, du bist wach geblieben. Ich habe jetzt große Lust, ein Auto oder etwas Vergleichbares zu zerstören“. Er war nicht mehr zu beruhigen. Auch das Stück von Camille Saint-Saëns nach der Pause vermochte das nicht. Es ging munter weiter. Zum Glück war das Konzert dann beendet und ich konnte ihn davon überzeugen, nicht weiter auf dem Schlosshof wie ein Rohrspatz zu schimpfen.
Ich versuchte es mit einem Besuch in der Eisdiele. In der Hoffnung, dass ihn ein Eisbecher oder ein Milchshake wieder beruhigen könnten. Dort googelte er aber den Künstler Erkin und fand tatsächlich 68 Follower. „Das sind für mich die wahren Helden“ ging es weiter. Auf YouTube hörte er sich in der Eisdiele weitere Stücke des Komponisten in beträchtlicher Lautstärke an. Er war nicht mehr zu beruhigen. Einige Gäste schauten irritiert rüber. Antwort: „Das ist Erkin, ein Geheimtipp“. Ein Milchshake Banane beruhigte ihn zumindest vorübergehend. Wie immer trank er ihn nicht leer und schob mir den Rest zu. Ich trank ihn aus und schlürfte dabei versehentlich mit dem Strohhalm. Mein Mann hörte sich das an und meinte: „Du störst meinen Erkin-Musikgenuss und wenn schon, dann mach es richtig“. Er nahm mir das Glas samt Strohhalm ab und schlürfte in einer Lautstärke und Intensität, man macht sich keine Vorstellung. Meine Beteuerungen, ihn nicht zu kennen wurde ignoriert. Alle, wirklich alle schauten ihn und auch mich an. Und es ging munter weiter. Irgendwann mussten alle lachen. Bedienstete, Gäste, alle außer mir.
Man kann meinen Mann nirgends mit hinnehmen, nirgends. Immer passiert sowas. Nach dem Besuch in der Eisdiele ging es zurück zum Auto. Auf dem Weg dorthin kamen wir an einem schnuckeligen Restaurant vorbei und mein Mann bemerkte ein kleines Hungergefühl. Kein Wunder, nachdem er sich so aufgeregt hatte. Kurzum, wir gingen hinein und fanden ein ruhiges Plätzchen in der hintersten Ecke. Aufgrund des schummrigen Lichts bot der Wirt uns an, noch ein Licht einzuschalten. Daraufhin sagte mein Mann was zu ihm?? „In ihrem (sprich meinem) Alter ist weniger Licht immer besser.“ Lange gesucht bis ich sowas wie ihn gefunden habe…