2006 wurde ich aufgrund einer Aphonie in eine Stimmheilkur nach Bad Rappenau überwiesen. Weder wusste ich was da genau auf mich zukommen sollte, noch wo Bad Rappenau anzusiedeln ist. Völlig unbedarft machte ich mich auf den Weg. Dort angekommen begann die übliche Eincheckroutine. Danach auf das spartanische Zimmer und die vier angedachten Wochen konnten beginnen. Am Nachmittag fand ein erstes Treffen unserer Gruppe statt. Ein Come Together wie man es heutzutage wohl nennen würde. Man sollte sich vorstellen, warum man hier ist, welche Probleme man hat usw. Dazu wurden die Verpflegungsgewohnheiten abgefragt. Schwierig für mich ohne Stimme. Also flüsterte ich etwas in den Seniorenkreis. Er bestand aus Lehrern, Politikern, Sängern, Vertriebsleuten, die klassischen Sprechberufe waren alle vertreten.

Einer in meinem Alter war noch dabei und schließlich war er an der Reihe. Warum er hier sei, frage er sich auch. Schlechte Logopädenauswahl vermutlich. Schließlich habe er nur ein leichtes Dauerräuspern. Drei Mal am Tag würde er keinesfalls essen und sähe er bald aus wie die da. Er zeigte auf mich. Ich fiel fast vom Stuhl. Ich hatte damals 56kg verteilt auf 165cm. Davon träume ich heute. Was für ein Arsch, dachte ich mir damals. Und der Schnösel machte munter weiter. Auf gar keinen Fall werde er sich mit 5 anderen am Tisch eine Flasche Wasser teilen. Zuvor beim Mittagessen war ihm genau das widerfahren. Er kaufte gleich danach die feinsten Säfte und bereits beim Abendessen standen diese auf dem Tisch. Nur für sich versteht sich. Was für ein Kotzbrocken. Er war noch nicht fertig. “Kein WLAN, sind wir hier bei den Feuersteins?” Er müsse arbeiten. Zudem eine Anwendung nach der anderen. Wann bliebe denn Zeit für Meetings und Konferenzen? Jetzt platzte der ansonsten sehr ruhigen und ausgeglichenen Dame aus der Stimmheilkur endgültig der Kragen. Sie schiss den selbstverliebten Gockel richtig zusammen. “Was glauben Sie denn wo sie hier sind? Im 5* Hotel? Entweder Sie halten sich hier an die Regeln, und lassen sich auf die Behandlung ein, oder Sie können gleich wieder gehen”. Herrlich, ach war das schön. Ich fühlte mich richtig gut. Nur leider nicht lange. Denn dieser unangenehme Kerl schoss aus allen verbalen Rohren zurück. “Sie wollen mir drohen, mich aus diesem Seniorenstuhlkreis zu entfernen? Aber gerne doch. Wo wir gerade dabei sind, was sind denn das für Anwendungen? Entspannungsübungen? Mache ich nicht“. Es ging hin und her, irgendwann beruhigten sich die Gemüter wieder und er verschwand auf sein Zimmer.

Wo bin ich hier nur gelandet, dachte ich mir. Am nächsten Morgen tauchte er beim Frühstück wieder auf. Er sprach mit niemandem und seine Abneigung gegen alles und jedes hier war deutlich zu spüren. Ich weiß gar nicht mehr wie es dazu kommen konnte, aber irgendwann sprachen wir miteinander. Der Herr mit den Designerklamotten und einem Dünkel sondergleichen, sprach mit mir. Wahrscheinlich mangels Alternativen. Er benahm sich immer noch unmöglich, nur mit dem Unterschied, dass er mich in seine Unverschämtheiten mit reinzog. Jetzt werden sich die ersten denken: “Du wirst Dich doch nicht in diesen Arsch verliebt haben?” Doch, genau das ist passiert. Er hat sich so unmöglich verhalten, soviel Blödsinn  gemacht, er war schlimmer als Max & Moritz.

Aber es gab auch eine ganz andere Seite an ihm, die mehr und mehr auftauchte. Deshalb habe ich angefangen, über all das und noch viel mehr ein Buch zu schreiben. Die Kurzfassung ist, man kennt ihn heute nicht mehr wieder. Wie ausgewechselt, hat sein ehemaliges Luxusleben komplett aufgegeben. ALDI-Hosen und LIDL-Pullover? Aber klar doch. Pullover aus recycelten Glasflaschen, logo. Das größte Kind im Haus? Na wer wohl! Jede Woche in der Oper, im Theater und im klassischen Konzert? Längst passé. Kulturkreisen quer durch Europa? Vorbei. Bücher aller Nobelpreisträger lesen ist auch Vergangenheit. Jede Woche dem FCK hinterher reisen, alle Spiele live im Stadion sehen, auch das war mal. Aber Blödsinn machen, mit den Kindern durchdrehen und unverschämte Sachen sagen, das geht immer noch. Ein Leben für die Familie. Vielen Dank für diese unglaubliche Reise bis hierhin, ich liebe Dich.